Die Ebenen der Verwurzelung bzw. Entwurzelung

Liebe Meta, mir gefällt, dass du es schaffst, differenziert zu schreiben. Du gehst nicht nur deinen alten eigenen Ideenlinien nach, sondern verzweigst sie auch, springst sogar auf neue und andere hinüber, die davon wegführen. Ich meine zum Beispiel das schöne Zitat von Friedrich Schiller. Ich beneide die Völker, die ein (starkes) Nationalbewusstsein haben. Ihren einzelnen Mitgliedern bleibt immer ein Zuhause, das sie sicher haben. Geht die Familie kaputt, verlässt mich mein Partner, wollen meine Kinder nichts mehr mit mir zu tun haben? Ein US-Bürger, Chinese, Russe, Brite, Franzose, Pole, Däne oder Tscheche (oder noch viele andere Bürger anderer Nationen) kann dann immer noch sagen: Aber eins bleibt mir: mein Vaterland. Da fühle ich mich wohl, geborgen und sicher.

Was kann ein Deutscher sagen, dem in Bezug auf seine Familie all die oben genannten Traurigkeiten geschehen sind? Aber eins bleibt mir immer noch: die EU. Oder er identifiziert sich dann mit seiner Heimatregion. Das fällt mir auf, dass sich viele Menschen in Westdeutschland nicht um ein einwandfreies Hochdeutsch bemühen, sondern sich in ihren Dialekten sehr wohl fühlen, die sie zum Teil so ausgeprägt sprechen, dass ich sie als Brandenburger/Sachse nur schwer verstehe. Aber sie können Englisch. Sie springen von ihrem Dialekt gleich direkt ins Englische. Deutsch ist für sie nicht wichtig. Aber wer rettet sie, wenn sie im Ausland in Not sind? Nicht Baden und auch nicht Württemberg, nicht Hessen, nicht Bayern und auch nicht die EU, sondern Deutschland. Für mich ist diese nationale Ebene des Zuhause-Gefühls sehr wichtig, weil ich meine Sprache wertschätze, ein ausgeformtes, differenziertes Hochdeutsch. Allein deswegen kann ich mich nicht auf eine einzelne deutsche Region kaprizieren.

Ich finde sie im Gegenteil alle schön. Und das macht Deutschland auch aus, nicht nur die Vielfalt der Jahreszeiten und Wetter, sondern auch die Vielfalt der Landschaften und Städte, von den Meeren über die Mittelgebirge bis zu den Alpen. Und das alles in den verschiedensten Farben. Auch meine Heimatregion, das Havelland mit seinen Seen und dem Fläming, gehört dazu. Ich kann aber nicht sagen, dass ich mich ihm näher verbunden fühle als mit der Ostsee, dem Harz oder den Alpen.

Ich denke also mehr national als regional. Ich finde, jede Ebene muss vertreten sein, beginnend mit der kosmischen, dem Ahnen, dass da noch andere bewusstseinsfähige Wesen im Weltall leben, wenn ich in den dunklen Sternenhimmel schaue. Und wenn ich dann das Bild von der blauen Erde sehe, das vom Mond aus aufgenommen wurde, fühle ich eine starke Verbundenheit mit diesem Planeten. Mit „Europa“ kann ich, ehrlich gesagt, nicht so viel anfangen. Asiaten sind mir von ihrer Lebensart her näher als manche Europäer, die mir, wenn sie aus den südlichen und westlichen Ländern kommen, oft zu laut und zu temperamentvoll sind.

Jeder darf seine persönlichen Vorlieben haben. Aber um eine Ebene kommen wir alle nicht herum: die der Nation. Sie ermöglicht erst Staaten und damit Demokratie. Die Demokratie ist immer an einen konkreten Staat mit seinem Wahlvolk und seinem gewählten Parlament gebunden. Ein Wähler in Deutschland kann, wenn er kein besonderes politisches Interesse hat, gar nicht entscheiden, ob sich ein Kandidat, der sich in Portugal für das Europäische Parlament bewirbt, dafür geeignet ist oder nicht. Und umgedreht. Da ist schon die Sprachbarriere dazwischen, und es geht ja auch nicht nur darum, ein Wahlprogramm zu übersetzen, sondern verfolgen zu können, was er über die Jahre gemacht hat.

Andererseits kann die gleiche Sprache über mehrere Staaten verteilt sein. Die deutsche Kulturnation, einschließlich grundlegender Mentalitäten, definiert sich durch die Sprache und nicht durch Staatsgrenzen. Deswegen fühle ich mich sogar in Südtirol noch von vornherein auf irgendeine Weise heimisch. Umso schlimmer ist es, wie wir Deutschen mit unserer Sprache umgehen, wie leichtfertig wir immer mehr auf sie verzichten und etwas auf Englisch sagen, für das es durchaus gute deutsche Worte gibt oder uns gar nicht bemühen, für neue technische Entwicklungen eigene deutsche Worte zu finden. (Winfried Kretschmann wies darauf hin.)

„Die Entwurzelung ist bei weitem die gefährlichste Krankheit der menschlichen Gesellschaft. Wer entwurzelt ist, entwurzelt. Die Verwurzelung ist vielleicht das wichtigste und meistverkannte Bedürfnis der menschlichen Seele.“ (Simone Weil)

Es gibt „gefallene Staaten“ auf dieser Welt und auch „gefallene Städte“. Markus Söder meint, Berlin sei eine solche. Damit kann er nicht ganz unrecht haben, denn wenn es so weit gekommen ist, dass immer wieder, nicht nur zu Silvester, Feuerwehren und Rettungswagen, deren Besatzungen Leben retten wollen, angegriffen werden, zum Teil auf eine lebensgefährliche Weise, dann kann es sich nur um eine gescheiterte, fragmentierte Gesellschaft handeln, in der so etwas möglich ist. Das Maß des Gescheitert-Seins lässt sich an der Anzahl entwurzelter Menschen, die in diesem Sozialwesen leben, messen. Es hält sie nichts Gemeinsames zusammen, keine gemeinsame nationale Idee und Kultur, sondern es gibt viele Kulturen, die gegeneinander kämpfen.

Und vielleicht hatte sich die deutsche Sprache und Kultur, als sie in den sechziger, siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts noch stark präsent war, auch zu sehr abgeschottet, nahm „die Neuen“ selbst dann nicht auf und ließ sie kulturell-mental „rein“, wenn sie sich ehrlich darum bemüht hatten. (Aber auch Deutsche können ein Lied davon singen, wie schwer es ist, in einem neuen deutschen Dorf heimisch zu werden. Da braucht es viel Ausdauer und Mühe.) Das ist schade: Was stark ist, ist oft zu stolz und wer schwach ist und sich nicht durchsetzen kann und will, übt keine Anziehungskraft mehr aus, über- und angenommen zu werden.

Das aggressive Auseinanderfallen einer Gesellschaft liegt gar nicht nur an dem fehlenden guten Willen der Randalierer, sondern vor allem daran, dass die aufnehmende Gesellschaft zu schwach und zu mutlos ist, eindeutige kulturelle Angebote, einschließlich der Sprache, zu machen, in die sich die Neubürger integrieren können. Deutschland ist nach meiner Beobachtung und Überzeugung von den entwickelten Ländern das mit der höchsten Entwurzelung, weil uns zum einen ein starkes nationales Band fehlt, das die Menschen zusammenhalten könnte, nicht nur die, die schon immer Deutsche waren, sondern auch mit denen, die gern Deutsche werden wollen.

(Die anderen sollten sich ein Land suchen, deren Sprache und grundlegende Kultur sie gern übernehmen wollen. Dann sähe die Welt schon entschieden friedlicher aus. Allerdings müsste Deutschland dann aufhören,  Asylsuchenden materielle Zuwendungen im weit überdurchschnittlichem Maß zu bieten. Dann bleiben nämlich auch die hier, die Deutschland eigentlich gar nicht mögen und nicht vorhaben, „Deutscher“ zu werden, nicht nur per Pass, sondern kulturell und wirtschaftlich tatsächlich.)

Wenn wir von der nationalen Ebene auf die familiäre in Deutschland schauen, ist die Lage dort auch nicht besser: Familien zerfallen und fragmentieren sich bei uns zunehmend. Die erotische Selbstverwirklichung steht weit über dem Halt und der Sicherheit, die Kinder in ihren Familien zum Aufwachsen brauchen. (Marlen hat in ihrem Beitrag dazu Vorschläge gemacht und du, liebe Meta, solltest als gelernte Christin mir die Schafe nicht geringschätzen.)

Zum dritten leben wir in einer Kultur der Wechselhaftigkeit. Wenn Kinder und Jugendliche „keine Lust mehr haben“, etwas zu tun oder zu lernen, soll ihnen schnell etwas Neues geboten werden, das sie mit starken Reizen anspricht, anstatt sie zu befähigen, etwas angeblich Langweiliges in seiner Tiefe auszuloten und wertzuschätzen. Das gilt nun inzwischen sogar schon für ihr eigenes Geschlecht: Ich will was Neues ausprobieren, ich will jetzt mal das andere Geschlecht haben oder divers sein. (Sicher gibt es auch „echte“ Fälle, wo Menschen tatsächlich im falschem Körper leben, aber es geht mir um den generellen Hype, der hier veranstaltet wird.) Das ist Entwurzelung par excellence. Da sehe ich schwarz für Deutschland, wenn sich die politischen Verhältnisse auf die Dauer nicht ändern.

Siehe auch meine Antwort auf Metas Beitrag Deutschland und die Welt (2).

Ein Kommentar zu “Die Ebenen der Verwurzelung bzw. Entwurzelung”

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